Und was die österreichischen Bildungspolitiker aus dem gescheiterten Weg der iranischen Bildungspolitik lernen könnten.
Alle Leute, die im Iran in die Schule gegangen sind, kennen den Spruch: „Tawana bowad har keh dana bowad“ (zu Deutsch: „Wissen ist Können“ oder „Wissen ist Macht“). Sie alle haben auch nach dem Schul- bzw. Studienabschluss und mit dem Eintritt in das ‚wirkliche‘ Leben am eigenen Leib erfahren müssen, dass das Motto der Bildungspolitik im Iran eine ziemlich leere Worthülse ist. Was – mit wenigen Ausnahmen – allen von uns gefehlt hat, war die Fähigkeit, das theoretisch erworbene Wissen auch praktisch zu nutzen und umzusetzen. Das haben wir nie gelernt. Warum? Weil das weder Unterrichtsgegenstand war und ist, noch von den Lehrern und Professoren – so nebenbei – vermittelt und abgefragt wurde und wird. Und nicht zuletzt, weil das auch kein Thema bei „Konkur“ (Aufnahmetests auf der iranischen Uni) ist.
Das ‚praktische Können‘ ist auch keine Fähigkeit, keine Qualifikation im Iran, die einen Einfluss darauf hätte, ob man einen gut bezahlten Job bekäme oder nicht. Es wird da und dort doch geschätzt, gelobt und in der Privatwirtschaft vielleicht auch gut bezahlt, aber – und darauf kommt es an – es wird nicht nur von einem Normalsterblichen, sondern auch von den Leuten in hohen Ämtern nicht erwartet und nicht vorausgesetzt. Es wird auch gar nicht als Ersatz für das theoretische Wissen oder gar als (mehr oder weniger) gleichwertig anerkannt. Im Gegenteil: Solche Leute, die beides einbringen – das theoretische und das praktische Wissen – sind zwar (in der Privatwirtschaft) hoch gefragt und auch gut bezahlt – aber sie gelten als Ausnahmeerscheinungen und Zufallsprodukte der Bildungspolitik. Und wenn man ‚nur‘ praktisches Können an den Tag legt, wird bestenfalls mit einem freundlichen Lächeln auf die wartende Schlange der Uni-Absolventen auf den gerade zu besetzenden Job hingewiesen.
Ich wage zu behaupten (wohlwissend, dass meine Meinung als einer, der nie Bildungspolitik studiert oder gar gelehrt hat, nicht zählt), dass diese Misere der Bildungspolitik im Iran mit der Einführung von Konkur (Aufnahmetests an den iranischen Unis) in den 60-er Jahren ihren Anfang genommen hat. Die Multiple- Choice- Fragen richten sich ja naturgemäß nach dem rein theoretisch gelernten Wissen. So wurde mit der Zeit der ganze Lehrinhalt in der Schule darauf hin getrimmt, in der Hoffnung, dass die Schulabgänger diese Aufnahmetests noch besser bestehen. Es etablierte sich mit der Zeit ein unsäglicher Kult, wer welchen Rang bei den Tests erklommen hat und auf welcher Uni und in welcher Fachrichtung aufgenommen wurde. Ein Kult, der sich in den letzten Jahrzehnten bis hinein in den kleinsten Winkel jeder Dorfgemeinschaft fortgepflanzt hat. Ein Kult, der jedem ‚praktischen Können‘ mit völliger Ignoranz und Präpotenz gegenüber steht.
Das Dumme daran ist aber, dass nach ein paar Perioden nur mehr Absolventen auf den Unis und Hochschulen gezüchtet werden, die das Handwerkszeug ihres Faches gar nicht mehr beherrschen, aber nicht allzu selten ein ziemlich hohes theoretisches Wissen aufweisen. Ein theoretisches Wissen, das sie nicht im Stande sind, in der Praxis zu nutzen. Wenn sie tüchtig und interessiert sind, dann lernen sie es nach langen Jahren Berufspraxis in mühsamer Kleinarbeit und nachdem sie jede Menge Fehler gemacht und der Gesellschaft damit geschadet haben, irgendwann einmal. Aber wie gesagt, sie sind die Ausnahmeerscheinungen und Zufallsprodukte der Bildungspolitik.
Dieser Teufelskreis wird dadurch geschlossen, dass die Lehrer und Professoren an den iranischen Schulen und Universitäten genau aus diesem „Sumpf“ hervorgegangen sind. Sie sind gar nicht mehr imstande, den Jugendlichen und Jungen das ‚praktische Können‘ zu vermitteln und abzufragen. Und die Jugendlichen und Jungen fordern den Lehrenden in dieser Richtung auch nicht heraus. Sie interessieren sich nämlich keinen Deut dafür. Sie sehen darin im Gegenteil eine reine Zeitverschwendung, weil sie ja nur die Konkur und den unsäglichen Kult darum herum im Auge haben, weil Familie und Freunde von ihnen erwarten, dass diese Haltung widerspruchslos übernommen wird.
So ist es im Iran zu einer „Klassengesellschaft“ gekommen, die sich der alte Marx hat nie denken können! Der gesellschaftliche Rang und das gesellschaftliche Ansehen einer Person wird danach gemessen, auf welcher Uni man welches Fach absolviert hat, bei den Jüngeren, welche Schule und welche Noten und welchen Konkur-Rang man hat. Man kann zwar diese unheilvolle Rangordnung mit Reichtum und/oder Posten etwas kalmieren, aber eben nur kalmieren, nicht ersetzen. Jede (wohlhabende) Familie und jede gesellschaftlich wichtige Person versucht auf Biegen und Brechen ein schönes Abschlusszeugnis als ‚Krönung‘ für die Kinder oder für sich selbst zu ‚organisieren‘, koste es was es wolle (im wahrsten Sinne des Wortes).
Dass diese Bildungspolitik gescheitert ist, sieht man an der horrenden Jugendarbeits- und Perspektivlosigkeit im Iran, und dass man dort nach fünfzig Jahren beschlossen hat, die Aufnahmetests in ein paar Jahren abzuschaffen.
Die Diskussion in Österreich, bei vielen Fächern Aufnahmetests an den Unis einzuführen, erinnert mich also unweigerlich an das Schicksal der Jugend im Iran. Auch wenn man bei der Gestaltung der Aufnahmetests in Österreich geschickter vorgeht als im Iran, hat dieser unheilvolle Kult bereits in bestimmten Kreisen Fuß gefasst. Man versucht in Österreich zwar, bei den Aufnahmetests ein wenig das praktische Können in einem persönlichen Interview abzufragen, am Ende wird aber der genommen, der die theoretischen Tests bestanden hat. Die Möglichkeit zu sagen: „Bei den Tests bin ich durchgefallen, aber lasst mich zum Interview erscheinen“ steht für niemanden offen. Das vertieft auf lange Sicht nicht nur die Krise der Schulabgänger mit praktischem Können (was sich zum Beispiel an dem bereits vorhandenen Facharbeitermangel zeigt), sondern gipfelt in der Jugendarbeits- und Perspektivlosigkeit, die wir nicht nur von den Ländern wie Iran, sondern auch von namhaften europäischen Ländern kennen. Denn die Spanier, Engländer und Französen haben auch auf „Konkur“ gesetzt (das Wort stammt ja aus dem Französischen).