Ein Brief von einem Freund
Hallo lieber Freund!
Du fragst dich sicher: „Was will mir diese Überschrift eigentlich sagen? Will der Mehrdad über Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen den Bazars im Iran und in den anderen Ländern des Orients schreiben? Oder vielleicht sowohl als auch? Gibt es überhaupt Unterschiede? Und wenn es sie gibt, was findet er daran so wichtig und berichtenswert? Hierzulande gibt es auch z.B. verschiedene Möbelhäuser; die unterscheiden sich von einander schon ein bisschen, aber so wichtig und bedeutend sind sie auch wieder nicht – die Unterschiede. Also was will hier überhaupt gesagt sein?“
Bist gespannt? Gut! Dann lies diesen Brief mit mir.
Wie du eventuell weißt, stammt das Wort Bazar aus dem Persischen. Weißt du aber auch was Bazar genau bedeutet?
Damals als sich die Seidenstraße etablierte, reisten die Geschäftsleute von einem Land zum anderen und brachten (vor allem lukullische) Raritäten von diesen Reisen mit. Das wiederholten sie wieder und wieder. Das Wort Bazar bedeutet nun „Ort, an dem man diese zurückgebrachten Waren/Raritäten bewundern und erwerben kann“; zu Deutsch „Einkaufsmeile“ oder „Markt der (lukullischen) Mitbringsel“ oder auf Wienerisch: „Naschmarkt“.
Und nachdem der Iran, mitten an der Seidenstraße lag, waren die Bazars dort im Land ja immer herrlich gefüllt. Übrigens es wurden nicht nur Naschereien und andere landwirtschaftlichen Produkte ausgetauscht, sondern auch Bücher, Handarbeiten und Kunstwerke. Und so hat sich die Funktion von „Bazar“ mit der Zeit erweitert – er hat sich von einem reinen Markt der lukullischen Spezialitäten zum allgemeinen Begriff für Handelsplatz weiter entwickelt. Durch diesen Handel und Austausch von Kulturgütern über weite Grenzen hinweg, wurde die Kultur in Ost und West (und natürlich auch im Iran) fast wie von selbst bereichert.
Vielleicht hier auch eine kleine Nebenbemerkung: Der Austausch von Kulturgütern bewirkte nebenbei, dass bis hinein ins moderne Zeitalter, die gebildete Schicht und die Kaufleute sehr weltoffen waren. Dass sich diese Weltoffenheit nun, nach einer langen Durststrecke durch die Wüste der (ultra-) nationalistischen oder gar faschistischen Zeiten hindurch, jetzt wieder ein bisschen einspielt, hat – zumindest zum Teil – mit dem verstärkten Handel und der zunehmenden Reisetätigkeit weltweit (Stichwort: „Globalisierung“) zu tun.
Aber jetzt wieder zurück zu unserem Hauptthema:
Wahrscheinlich hast du auch gehört, dass der Gründer von ebay aus dem Iran stammt; mit der Idee des virtuellen Markts der Mitbringsel ist er schon Milliardär geworden.
Soweit nicht allzu viel Neues für dich. Das Interessante kommt noch.
Die Bazars in Iran unterscheiden sich in einem scheinbar unwichtigen, aber umso bedeutungsvolleren Punkt, von den anderen Bazars im Orient, in der Türkei oder in Ägypten zum Beispiel.
Alle diese Bazars sehen auf den ersten Blick ziemlich gleich aus: Jede Menge kleiner Geschäfte, die alle mehr oder weniger ähnliches verkaufen, dicht nebeneinander. Alle Händler haben ihre Waren in der Auslage und auf dem Gehsteig ausgestellt. Es glänzt und glitzert rundherum. Manchmal – allzu oft – wirken sie ziemlich kitschig; zumindest wenn man sie mit den Einkaufszentren hierzulande vergleicht.
Aber es gibt trotzdem einen Unterschied! In den iranischen Bazars findest du selten jemanden, der dir nachläuft oder gar, hartnäckig und belästigend, versucht, dich in sein Geschäft zu locken.
Man sieht die Geschäftsleute, die ziemlich gelassen, in ihrem kleinen Raum hinter dem Verkaufspult harren und Tee trinken und einfach so warten, bis der nächste Kunde herein kommt. Und diesen behandeln sie dann ziemlich kühl, und manchmal sogar so kühl, dass man sich fast beleidigt fühlt.
Du denkst dir, ich bin der Kunde, und der Kunde ist König; zumindest meint man das hierzulande. Weit gefehlt! Da wird der Kunde nur als „Störfaktor“ betrachtet, der die schöne „Pause“ des Bazaris zu unterbrechen gedenkt; wenigstens könnte man das glauben, wenn man den wahren Hintergrund nicht kennt.
Es ist nicht allzu lange her, als ich einen alten, mir ans Herz gewachsenen, Freund wieder traf. Wir plauderten über Gott und die Welt und er erzählte mir, dass er vor kurzem ein Buch, eigentlich die Reisememoiren einer europäischen Frau, die vor fast 200 Jahren, über die Türkei, den Iran besuchte, in der persischen Übersetzung gelesen hat. Und darin stand genau das Gleiche, was ich dir vorhin geschildert hab’: Im Gegensatz zu den türkischen Bazars ist ihr im Iran niemand nachgelaufen, und schon gar keiner hat versucht, sie bettelnd in sein Geschäft herein zu locken. Das hat sie nicht nur beeindruckt, sondern auch erstaunt. Sie fragte sich nämlich, wie machen die denn ihr Geschäft? Und sie wusste keine Antwort.
Der Freund von mir versuchte es mit der Begründung, dass die Iraner allgemein, und die Geschäftsleute im Besonderen, durch die Petrodollars verwöhnt sind. Oder mit anderen Worten: es kommt eigentlich gar nicht so sehr auf das kleine alltägliche Geschäft an, ob und wie viel der Geschäftsmann im Bazar am Ende des Tages in der Kassa vorfindet.
Nur, diese Begründung hat einen ganz großen Haken! Vor 200 Jahren (eigentlich seit eh und je) war das Öl im Iran ja kein Thema. Man importierte gar Öl für Öllampen und dergleichen aus den arabischen Ländern, vorwiegend aus Saudi Arabien. Also dieses „mysteriöse“ Verhalten kann auch nicht mit den iranischen Staatseinnahmen aus dem Rohölverkauf erklärt werden.
Die Frage ist also, wie machen die Geschäftsleute in den iranischen Bazars nun ihr Geschäft?
Stell dir vor: Es laufen ganz unterschiedliche Leute durch den Bazar. Warum soll einer gerade bei dem hintersten Geschäft was kaufen, wo es das Gleiche um fast den gleichen Preis auch beim erst-nächsten Geschäft zu kaufen gibt? Die etwas weiter hinten in Bazar gelegenen Geschäfte müssten eigentlich schon längst pleite sein, bzw. ihr Geschäft dem ersteren verkauft haben und ihr Dasein als dessen Zweigniederlassungen fristen, wenn sie sich denn weder im Produktportfolio noch im Preis von dem ersteren wesentlich unterscheiden. Die unterscheiden sich nun aber in der Tat kaum von einander, trotzdem kommt es nicht zu einer großen Pleitewelle. Und sie sind auch keine „Zweigniederlassungen“ des ersteren, obgleich sie miteinander eine wahrlich enge Kooperation pflegen. Also wie gewinnt man denn hier die Kunden?
Die dir bekannte Art in den anderen Bazars im Orient könnte man mit den „Spamern“ hierzulande vergleichen: Sie kämpfen um jeden x-beliebigen Kunden, der gerade vorbei geht, und versuchen, die Wucht der Rhetorik auszuspielen und dabei auch ein bisschen „Mitgefühl“ und „Mitleid“ in den potentiellen Kunden zu erzeugen. Manchmal kalkulieren sie auch mit dem Gefühl der „Befreiung“, das potentielle Kunden nach einer Phase langer Belästigung erfüllt und manchmal versuchen sie mit dem Einsatz von etwas körperlicher Gewalt, den Willen der Kunden zu ihren Gunsten umzustimmen.
In den iranischen Bazars wird aber aus dem Spiel um „x-beliebige Kunden“ ein Spiel um „die Auslage“ gemacht: Obgleich die Geschäfte auf den ersten Blick fast identisch aussehen, bietet doch jedes von ihnen einen feinen Unterschied in seiner Auslage und in der Art, wie es sich dem Kunden insgesamt präsentiert. In der Sprache der modernen Wirtschaftstheorien gesprochen: Jedes von ihnen hat seine eigene „corporate Identity“ im kleinen Maßstab.
Und genau diese feine „Besonderheit“ ist es, die einen potentiellen Kunden in das „vorletzte“ Geschäft lockt. Und glaube mir, der Geschäftsmann hinter dem Pult weiß bereits bevor du hinein gehst schon, ob du „sein“ Kunde bist oder nicht. Denn er weiß um die Besonderheit seiner Auslage und seines Geschäfts ganz genau Bescheid. Sie wissen es, auch wenn sie es nie sprachlich schön formuliert, zu Protokoll geben können, denn dazu sind die meisten Bazaris, als ungebildete Leute, ja gar nicht imstande. Sie verlassen sich einfach nur auf ihr Gefühl und ihren Instinkt. Und diejenigen von denen, die es daran auch noch mangeln lassen, gehen halt Pleite.
Um es besser zu erklären muss ich einen Ausflug in die Mathematik machen: Du kennst sicher die statistischen Methoden wie z.B. Gauß’sche Verteilung und Varianz und dergleichen. Dass sich die Kunden im Bazar so zu den verschiedenen Geschäften verteilen, dass jedes von ihnen einen Teil der Kundschaft bekommt, könnte man mit einer statistischen Verteilung beschreiben.
Nun wie wir in der Mathematik gelernt haben, kann man solche statistischen Verteilungen nur dann annehmen, wenn das System stochastisch-ergodisch ist.
Stochastisch ist klar: zufällig, nicht deterministisch. Viel schwieriger wird es aber mit ergodisch. Ergodisch könnte man mit dem Begriff „einem Muster folgend“ umschreiben. Vereinfacht ausgedrückt, ergodisch ist ein System dann, wenn die zeitliche Verteilung (die zeitlichen Mittelwerte) durch die örtliche Verteilung (Mittelwerte im Phasenraum) ersetzbar ist (sind). Und das ist beileibe gar kein einfach erfüllbares Kriterium.
Es gibt nämlich genug Systeme – und da sind vor allem soziale Systeme zu nennen – die nicht ergodisch sind. Denn Menschen als vernunftbegabte Wesen mit freiem Willen würden nie ohne einen tieferen Grund einem Muster folgen, und damit dem System Ergodizität verleihen.
Bleiben wir bei dem Beispiel vom Bazar: Entweder wird der Kunde mit sanfter Gewalt dazu gezwungen, bei dem hintersten Geschäft einzukaufen. Oder es muss einen tieferen Grund – das Muster, dem der Kunde folgt: die Attraktivität des Produktes, der Auslage, der Atmosphäre etc. – geben, der die Menschen dazu veranlasst, zufällig bei dem ungünstig gelegenen Geschäft einzukaufen. Das ist sozusagen der unsichtbare Band, der dem Kunden mit diesem Geschäft verbindet.
Und so wird eben die Ergodizität hergestellt: Ein Teil der x-beliebigen, vorbeigehenden Passanten fühlen sich zu einem bestimmten Geschäftslokal angezogen und kaufen dort ein. Davon zehrt und lebt der Geschäftsmann, und es lebt sich damit auch sehr gut! Und das jahrelang, ohne dass sich die Mehrzahl der Kunden wieder blicken lässt und seine Stammkunden wird.
Am amüsantesten und prägnantesten ist dieses Spiel um die Auslage dann, wenn man(n) Frauen zu ihrer Lieblingstour im Bazar, nämlich bei Gold- und Schmucksachen Kaufen, begleitet. Sie gehen ganze Passagen auf und ab, und bei einigen wenigen Auslagen finden sie einen Blickfang, das Besondere dieses Geschäftes, das IHREN Blick anzieht. Und dann ist das Geschäft gelaufen. Und die Kundin zahlt fast jeden Preis, jedenfalls einen schönen Preis für den Geschäftsmann.
Das Beispiel mit Gold- und Schmuckgeschäften ist zugegebenermaßen eher ein Sonderfall. Daran zeigt sich nichtsdestotrotz, dass einem Geschäft langfristig nicht gut gehen kann, wenn es nur „das Übliche“ und eben „nichts Besonderes“ anzubieten hat – auch wenn es sich dabei nur um die Art der Präsentation seiner Waren und nicht um die Waren selbst handelt.
Seit einiger Zeit (seit etwa 10 – 15 Jahren) gibt es übrigens einen neuen Job in den iranischen Bazars: eine Art Makler, ähnlich wie Versicherungsmakler hierzulande. Es gibt Leute, die dich dezent im Bazar fragen, ob sie dich begleiten und bei der Auswahl unterstützen dürfen. Die sind keine Mitarbeiter eines bestimmten Geschäftes, sondern haben Kontakt mit vielen gleichzeitig und kennen sozusagen „die Besonderheit einer jeden Auslage“. Diese Dienstleistung nimmt man besonderes dann gern in Anspruch, wenn man z.B. einen Perserteppich kaufen will.
Denn zig Geschäfte durchzuklappern und hunderte Teppiche durchblättern zu lassen, bis man das „Richtige“ gefunden hat ist sehr anstrengend. Vielleicht befindet sich das gesuchte Stück erst beim dritt-letzten Geschäft, von dem man auch noch vergessen hat, wo es genau war und zu dem man nicht mehr so einfach zurück findet. Da macht eine solche Dienstleitung wirklich Sinn. Der Makler kennt die Geschäfte und weiß welche Sorte von Teppich wo zu finden ist. Du erklärst ihm wonach du suchst und er bringt dich zu den Geschäften, die solche oder ähnliche Teppiche anbieten.
Er bleibt im Geschäft auch dezent im Hintergrund und verhandelt sogar für dich mit dem Geschäftsmann mit, wenn du mal auf was Bestimmtes ein Auge geworfen hast. Am Ende musst du ihm auch eine Provision zahlen, denn er bekommt vom Geschäftsmann kaum etwas gezahlt.
In den letzten Jahren haben sich aber auch in den iranischen Bazars manche Unsitten aus dem übrigen Orient und aus dem Okzident eingeheimst. Und dies vor allem dort, wo reichere Touristen aus dem In- und Ausland verkehren, zum Beispiel im Bazar im Norden von Teheran (Vali Asr).
Es ist aber auch klar, dass das (alltägliche) Geschäftsleben im Bazar um einiges komplexer ist, wenn man sich im Detail damit beschäftigt und beschäftigen will. Aber ich hoffe trotzdem, dass das Lesen dieser Zeilen dir nicht nur ein bisschen Spaß bereitet hat, sondern es auch vermochte, ein paar Eindrücke von der Geschäftigkeit in den iranischen Bazars – abseits der allgemein bekannten Klischees – zu vermitteln.
In diesem Sinne: Auf zu einem Besuch in einen Bazar!
Dein Freund, Mehrdad Madjdi